Naal-Glaßer, Jasmin
Standpunkt: Bewegung — Bildung — Leben
Kindliche Persönlichkeit und Bewegung
Alles, was lebt, bewegt sich auch. Unsere Kinder kommen mit einem selbstverständlichen und natürlichen Bewegungsdrang auf die Welt und verschaffen sich mit seiner Hilfe ein „Bild von der Welt“. Mit zunehmendem Alter verkümmert der natürliche Bewegungsdrang immer mehr. Oft verlieren schon Kinder ihren natürlichen Zugang zu der Ressource ihrer Eindrucks- und Ausdrucksfähigkeit und haben später mit vielfältigen Folgeproblemen zu kämpfen. Es stellt sich die Frage, welchen Beitrag Pädagog:innen und Eltern leisten können, um den Schatz des natürlichen Bewegungsdrangs zu behüten und zu begleiten.
Bewegung von Anfang an
Den spielerischen Zugang zu inneren Welten und Ausdrucksfähigkeiten über den Bewegungssinn in frühem Kindesalter aufzugreifen und über die gesamte Kindheit lebendig zu halten, ist von Beginn an eine wichtige Aufgabe von Eltern und Pädagog:innen und ein großes Geschenk an die zukünftige Generation. Nicht immer ist es für Erwachsene einfach, den meist überschäumenden Bewegungsdrang von Kindern angemessen aufzufangen. Denn dieser kann in unpassender Form in einer unpassenden Situation, in einer Spiel- oder Lerngruppe oder auch in einer Geschwisterkonstellation auftreten. Es ist, als kämpften sich hier Bewegungsbedürfnisse frei, die an anderen Stellen im Alltagsleben zu wenig Raum finden. Zahlreiche aktuelle Gesundheits- und Bewegungsstudien weisen auf eine negative Entwicklung unserer digitalisierten Sitzgesellschaft hin (vgl. Naal-Glaßer 2018, S. 35ff.). Die Weltgesundheitsorganisation World Health beobachtet im Kindes- und Jugendalter schon seit einiger Zeit ein Krankheitsspektrum, das sie als „neue Morbidität“ bezeichnet. Es findet dabei eine Verschiebung von akuten zu chronischen Krankheiten (Asthma, Allergien, Adipositas) sowie von somatischen Beschwerden zu psychischen Auffälligkeiten und Störungen statt (vgl. Schmidt 2013, S. 25).
Bewegung zulassen
Wie kann musikpädagogische Arbeit vor dem Hintergrund der geschilderten soziokulturellen Bedingungen und Entwicklungen nun individuell sinnvoll ansetzen und unterstützen? Vor dem Hintergrund meiner persönlichen musikpädagogischen Erfahrungen mit jungen Menschen vom frühen Kindes- bis zum Schulalter zeigt sich durchgängig dasselbe Bild: Musik initiiert in der Regel sofort eine emotionale und bildliche Assoziation sowie einen Bewegungsimpuls bei den Hörenden. Damit wird bei gesunden Menschen eine innere und äußere Bewegung angestoßen. Aus meiner Sicht als Musikpädagogin handelt es sich bei der ursprünglichen Bewegungsfreude um einen wertvollen Schatz. Und diesen Schatz, diese Ressource der Eindrucks- und Ausdrucksfähigkeit, gilt es zu tolerieren und zu verstehen.